Triple Jeopardy of Attention
Aufmerksamkeit als zentrale Rolle für die Wirksamkeit von Kommunikation wird in der Planung oft nicht, oder nicht ausreichend mitgedacht. Im Oktober 2022 wurde ein System1-Panel aufgezeichnet, dass aus meiner Sicht ein sehr gutes und tiefgreifendes Bild dazu zeichnet. Ich habe die für mich wichtigsten Kernelemente hier zusammengefasst.
In den Marketingwissenschaften gibt es das “Double Jeopardy“-Gesetz. Das Prinzip beschreibt den Zusammenhang von Marktanteil und Kauffrequenz. Marken mit hohem Marktanteil werden häufiger gekauft. Mehr Marktanteil, höhere Kundenloyalität.
Daran angelehnt führen Peter Field, Dr. Karen Nelson-Field und Orlando Wood ihre Studien und Forschungen unter dem Titel ‘Triple Jeopardy of Attention’ zusammen – also die drei Gefahren mit dem gemeinsamen Nenner Aufmerksamkeit. Drei Faktoren, warum Marketing in den letzten Jahren an Effektivität verloren hat.
“If your advertising goes unnoticed, everything else is academic.”
Bill Bernbach
Das Ziel für Marken ist es „Mental Availabilty“ zu schaffen – also zu relevanten Zeitpunkten im Kopf der Konsument:innen präsent zu sein.
Laut dem Panel wird zu viel Budget für kurzfristige Sales-Activationmaßnahmen ausgegeben und zu wenig für langfristigen Markenaufbau.
Es werden verstärkt Kanäle und Platzierungen genutzt, die kaum „Mental Availabilty“ aufbauen. Die Markenaufbaumaßnahmen, die betrieben werden, bauen weniger „Mental Availabilty“ auf als möglich. Ein ziemliches Dilemma also.
Die drei Faktoren des „Triple Jeopardy Of Attention“:
Die Verschiebung von Marketingbudget von reichweitenstarkem „Massenmarketing“ hin zu engeren Zielgruppen und kurzfristigen Sales Activation-Maßnahmen.
Das schwankende Aufmerksamkeitspotential bei verschiedenen Plattformen und Platzierungen.
Werbung, die kaum auf einen langfristigen Markenaufbau einzahlt.
Warum braucht es trotz detaillierter Targetingmöglichkeiten „Massenmarketing“?
Peter Field, bescheiden Godfather Of Effectiveness‘ genannt, erklärt, worum es ihm beim ersten Punkt geht.
Durch die Reduktion der klassischen Markenaufbautätigkeit und der Zunahme der kurzfristigen Sales Activation-Maßnahmen bauen viele Marken und Unternehmen kaum „Mental Availabilty“ auf. Diese ist aber grundlegend entscheidend für den langfristigen Erfolg von Marken.
Die kurzfristigen Sales Activation-Maßnahmen sprechen Personen an, die gerade im Kaufprozess ( ‘in the market’ ) sind und profitieren von bestehenden Markenassoziationen. Diese kurzfristigen Maßnahmen selbst bauen aber kaum Gedächtnisstrukturen zur Marke auf.
Markenaufbau bringt oder festigt eine Marke im Gedächtnis und assoziert sie mit Situationen, Emotionen, Werten, etc.
Diese Art von Kommunikation sollte an die Käufer:innen der gesamten Kategorie gerichtet sein. Stichwort reichweitenstarkes „Massenmarketing“.
Jedoch benötigt diese Art von Werbung auch entsprechende Platzierungen, wo sie die entsprechende Aufmerksamkeit bekommt.
Quelle: Media in focus, Marketing effectiveness in the digital era, Binet & Field, IPA
Mehr zum Thema langfristige Markenarbeit und kurzfristige Sales Activation im Blogbeitrag ‘The Long And The Short Of It’.
Fazit I: Zu viel kurzfristige Marketingkommunikation.
Ist Aufmerksamkeit in allen Medien gleich?
Den zweiten Punkt erläutert Prof. Karen Nelson-Field, die sich mit dem Thema Aufmerksamkeitsmessung beschäftigt.
Sie argumentiert, dass sich mit den digitalen Kanälen der Fokus der Aufmerksamkeitsmessung weg vom Menschen (früher Panelbefragungen) hin zu Kennzahlen verschoben hat. Die meisten Kennzahlen der Werbeplattformen sagen wenig darüber aus, ob einer Anzeige Aufmerksamkeit gewidmet wurde oder nicht. Eine Impression bedeutet nur, dass die Anzeige ausgespielt wurde und potentiell sichtbar war. Auch andere Interaktions-Kennzahlen sind maximal ein Indiz.
Der Mensch wechselt kontinuierlich zwischen aktiver, passiver und keiner Aufmerksamkeit – hier können Kennzahlen nicht mithalten.
Zusätzlich zeigt sich, dass verschiedene Plattformen und verschiedene Platzierungen in Bezug auf Aufmerksamkeit unterschiedliche Potentiale aufweisen. Plattformen, die starke Mechanismen entwickelt haben, kurzweilig zu sein und die Nutzungszeit pro Session hoch zu halten, zeigen, dass sie auch von Werbung schnell ablenken. In der OMR-Keynote ‘State Of The German Internet’ wurde erwähnt, dass Content auf TikTok nur 0.4 Sekunden Zeit hat Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, andernfalls geht’s direkt weiter im Feed.
Screenshot: Triple Jeopardy Of Attention, System 1 Group TV
Sechs mal so lange dauert es laut Nielsen-Field im Durchschnitt bis erste positive Effekte auf das Merken von Marken festgestellt werden. Die Untersuchungen zeigten, dass unter 2.5 Sekunden Betrachtungsdauer von Werbemitteln keine nachhaltige Wirkung für den Markenaufbau gemessen werden konnte.
In einer anderen Analyse aus 130.000 Betrachtungen von digitalen Werbeanzeigen wurde festgestellt, dass 85 % der Betrachtungsdauer unter eben diesen 2.5 Sekunden liegen.
Der Rückschluss wäre, dass nur 15 % der Anzeigen überhaupt irgendwelche messbaren Effekte auf das Verinnerlichen der Marke hätten. Besonders ineffizient ist es, wenn in der Werbung keine eindeutigen Markenelemente verwendet werden und die Werbung dann dem Marktführer in der Kategorie zugeschrieben wird.
Fazit II: Die Platzierung und deren Aufmerksamkeitselastizität muss mitgedacht werden.
Wie sieht Werbung aus, die im Gedächtnis bleibt?
Bei der dritten und letzten behandelten ‘Gefahr’ steht das Creative bzw. die Kampagne selbst im Mittelpunkt. Hier kommt Orlando Wood ins Spiel. Orlando Wood forscht an der Schnittstelle von Psychologie, Werbung und Kunst.
Eine verkürzte Darstellung der dahinterliegenden Theorie:
Die rechte und linke Gehirnhälfte haben verschiedene Aufgaben – das Ganze ist bei weitem komplexer und anders als das alte Modell, in dem zwischen rationaler und intuitiver Seite unterschieden wird.
Nach Dr. Iain McGilchrist bevorzugt die linke Gehirnhälfte enge, kurze fokussierte Aufmerksamkeit, während die rechte Gehirnhälfte eine breite und wachsame Aufmerksamkeit besitzt. Die rechte Gehirnhälfte sieht die Welt, wie sie ist, als Ganzes und versteht die Verbindungen und Zusammenhänge. Sie versteht Humor und Metaphern und hat Sinn für Perspektive.
Die linke Hemisphäre abstrahiert Einzelteile aus dem Ganzen, sieht die Welt durch mentale Modelle, flach und dogmatisch. Sie sieht nur den Rhythmus anstatt der Musik.
Die rechte Hemisphäre entspricht Daniel Kahnemans System 1, die linke Hemisphäre System 2.
Nun ist es so, dass über verschiedene Merkmale die beiden Hemisphären unterschiedlich stark angesprochen werden. Kommunikation, die für die rechte Hemisphäre geeignet ist, wird stärker abgespeichert und erzielt nachhaltigere Markeneffekte. Der folgende Screenshot zeigt welche Elemente, welche Hemisphäre ansprechen. ‘Narrow Beam’ entspricht der linken, ‘Broad Beam’ der rechten Hemisphäre.
Screenshot: Triple Jeopardy Of Attention, System 1 Group TV
In gewissen Epochen sind Gesellschaften in Balance zwischen den beiden Hemisphären und in gewissen Epochen gibt es eher einen Schwerpunkt auf den Merkmalen der linken Hemisphäre. Das lässt sich in Kunst, Politik, Unternehmen etc. feststellen. Zur Zeit sind wir in einer Phase, in der Hierarchien verstärkt werden, Zentralisierung und Standardisierung steigt. Kultur wird „flacher“, abstrakter und konzeptueller. Also eher mit Übergewicht der linken Hemisphäre - im Screenshot oben ‘Narrow Beam’.
Das spiegelt sich auch in Werbung wider. Rhythmischer, Produktbezogener, abstrakter, fokussiert.
Source: Look Out, Orlando Wood, IPA
Für den effektiven, nachhaltigen Markenaufbau eignen sich am besten Kampagnen, die die gelben Kriterien beinhalten. Szenen zwischenmenschlicher Beziehungen, eine Zuordenbarkeit des Ortes oder Dialoge.
Fazit III: Zu starker Fokus auf Kommunikation, die eher die linke Hemisphäre anspricht.
Ich hoffe Euch ist aufgefallen, dass in der Matrix oben Tiere die perfekte Mischung aus Emotion und Aufmerksamkeit sind. ;-)
Zusammengefasst: Für Brand Salience, Verkäufe und dauerhafte Effekte braucht es markenaufbauende Werbung, die die rechte Gehirnhemisphäre anspricht und in aufmerksamkeitsstarken Medien platziert ist.
Es lohnt sich, einen Blick auf die Kommunkation der eigenen Marke zu werfen und diese drei Faktoren zu analysieren.
Vielen Dank fürs Lesen - ich freue mich auf Kommentare, Fragen und Diskussion auf LinkedIn.
Quellen und Leseempfehlungen: